Der Bruder, der verstehen will

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Aldo Gutiérrez, vor dem Angriff. Foto: Privat

Manchmal reagiert Aldo. Wenn sein großer Bruder ihn anspricht, bewegt er die Augen oder ballt die Hände vorsichtig zu einer Faust. Es sind die Momente, in denen Leonel Gutiérrez spürt, dass Aldo ihn wahrnimmt. „Er sieht und spricht nicht, aber er kann uns hören“, sagt Gutiérrez. Dann massiert der Mexikaner seinem Bruder die Beine oder sorgt dafür, dass die Kanülen richtig sitzen. Alle zwei, drei Stunden dreht er Aldos Körper, damit keine Druckstellen entstehen. Immer wieder putzt er ihm die Spucke vom Mund. „Unser einziger Trost ist, dass er selbstständig atmet.“

Leonel Gutiérrez bleibt sachlich, wenn er erzählt, wie er seinen Bruder pflegt. Tag für Tag verbringen er und andere Familienmitglieder in der Rehabilitationsklinik INR im Süden von Mexiko-Stadt. Seit dem 26. September 2014 vergeht keine Stunde, in der sie sich nicht um Aldo kümmern. An diesem Tag wurde der damals 19-Jährige Opfer eines brutalen Angriffs – und seitdem liegt er im Wachkoma.

Polizisten und Kriminelle gingen in der südmexikanischen Stadt Iguala bewaffnet gegen Studenten der pädagogischen Landschule Ayotzinapa vor. Sechs Menschen starben, 43 sind bis heute verschwunden. Aldo Gutiérrez blieb schwer verletzt am Boden liegen. „Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen“, sagt sein Bruder. „Die Kugel hat den Schädel durchdrungen und die Hälfte des Gehirns zerstört.“

taz, 26. September 2018

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Ein Gewehr geht um die Welt

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Leonel Gutierrez, Bruder des schwer verletzten Aldo

Iguala am 26. September 2014: Schüsse fallen, Sirenen heulen, Blaulichter durchdringen die Nacht. Junge Männer rennen durch die Straßen der südmexikanischen Provinzstadt, verfolgt von Polizisten und Kriminellen. Plötzlich fällt Aldo Gutiérrez auf den Boden, regungslos bleibt er im Regen liegen. „Wir dachten, er sei tot“, erinnert sich ein Freund, der in diesem Moment neben ihm steht. „Dann sahen wir, dass Aldo sich bewegte und Blut spuckte.“ Eine halbe Stunde später bringt ein Rettungswagen den Studentenins Krankenhaus. Der damals 19-Jährige überlebt – und liegt seither im Wachkoma.

Stuttgarter Zeitung, 25. September 2018

 

Ein Meister aus Deutschland

Demonstration der Angehoerigen in Chilpancingo Hauptstadt von Guerrero - II Foto - diwa-film
Foto: diwa-film

Das Onda-Info des Nachrichtenpools Lateinamerika (NPLA) beschäftigt sich ausführlich mit dem illegalen Export deutscher Waffen nach Mexiko. In diesen Tagen jährt sich zum vierten Mal ein brutaler Angriff in der südmexikanischen Stadt Iguala. Sechs Menschen wurden damals von Polizisten und Killern der Mafia ermordet, 43 Lehramtsstudenten der Ayotzinapa-Universität sind bis heute verschwunden. Mehrere der Beamten trugen Sturmgewehre der Oberndorfer Firma Heckler&Koch – Waffen, die nie in diese Region hätten gelangen dürfen, weil die deutschen Behörden den Export dorthin nicht genehmigt hatten.

Fünf ehemalige Mitarbeiter der Rüstungsfirma stehen deshalb seit Mai dieses Jahres vor dem Landgericht Stuttgart. Seither wird dort über Endverbleibskontrollen, Verträge und andere bürokratische Abläufe gesprochen. Kein Wort verlieren die Beteiligten über die mörderischen Konsequenzen solcher Geschäfte: über die Menschen, die mit den Gewehren getötet oder schwer verletzt wurden. Oder über die Angehörigen der Opfer, die mit dieser schweren Bürde leben müssen.

Am 26. September, dem Jahrestag des Verbrechens, besucht der Mexikaner Leonel Gutiérrez den Stuttgarter Prozess. Leonel ist der Bruder von Aldo Gutiérrez, der in jener Nacht schwer verletzt wurde. Wir haben Leonel in Mexiko-Stadt getroffen. Zudem haben wir mit dem Rechtsanwalt Holger Rothbauer gesprochen. Er hatte mit dem Friedensaktivisten Jürgen Grässlin Anzeige gegen Heckler&Koch gestellt.

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Wie Waffenhandel tötet

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Iguala am 26. September 2014: Polizeisirenen heulen, Blaulichter durchdringen die Nacht, Busse mit zerschossenen Scheiben versperren den Weg. Mehrere Dutzend Studenten der pädagogischen Landschule Ayotzinapa  rennen durch die Straßen der mexikanischen Provinzstadt. Sie flüchten vor Polizisten, von denen sie gerade beschossen wurden. Dann sammeln sie sich auf einer Kreuzung. Wieder fallen Schüsse. Zwei Studenten gehen zu Boden und bleiben reglos im strömenden Regen liegen. Auch Ernesto Guerrero Cano befindet sich in diesem Moment auf der Straßenkreuzung. Später kehrt er an diesen Ort zurück.

Deutschlandfunk Kultur, 15. Mai 2018

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Deutsche Waffen, tote Mexikaner

Bürgerwehr mit G36 im Bundesstaat Guerrero- Foto Hans Musielik
Foto: Hans-Maximo Musielik

OAXACA taz | Eine Stunde lang liegt Aldo Gutiérrez auf dem Boden. Um ihn herum fallen Schüssen, Sirenen heulen, Blaulichter durchdringen die Dunkelheit. „Wir dachten, er sei tot“, erinnert sich später ein Kommilitone, der neben ihm stand. „Doch plötzlich sahen wir, dass Aldo sich bewegte und Blut spuckte.“ Kurz darauf bringt ein Rettungswagen den Studenten ins Krankenhaus. Er überlebt – und liegt seit dreieinhalb Jahren im Koma. „Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen“, sagt sein Bruder Leonel. „Die Kugel hat den Kopf durchdrungen und die Hälfte des Gehirns zerstört.“

taz am Wochenende, 12. Mai 2018

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„Wenn ich eine Pfarrer ermorden kann, kann ich tun und lassen was ich will“

foto omar sotelo

Täglich sterben in Mexiko Menschen im Krieg zwischen Mafiabanden, Soldaten und Polizisten. Zunehmend werden auch Kirchenvertreter Opfer dieser Gewalt. Omar Sotelo Aguilar ist sowohl Pfarrer als auch Journalist: Er hat die Hintergründe der Angriffe recherchiert.

Für den mexikanischen Pfarrer Omar Sotelo Aguilar war der 14. Januar dieses Jahres ein ganz besonderer Tag. Jahrelang hatte er an seinem Buch gearbeitet, nun konnte er es endlich in der Kathedrale von Mexiko-Stadt vorstellen. Schon der Titel verweist darauf, dass sich Sotelo mit einem schwierigen Thema befasst hat: „Tragödie und Feuerprobe des Priestertums in Mexiko.“

Deutschlandfunk, 29. April 2018

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Tödliche Berichte

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Foto: ProtoplasmaKid. Creative Commons.

Plötzlich war die Straße dicht. Reifen und Holzstangen versperrten den Weg. „Steigt aus, ihr Arschlöcher“, hörte Sergio Ocampo einen der etwa hundert Wegelagerer schreien. Er war mit einem Journalistenteam in Tierra Caliente unterwegs, einer Region im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Junge Männer, aber auch Kinder waren an dem Hinterhalt beteiligt. „Die meisten trugen Pistolen oder Gewehre“, erinnert sich Ocampo. Die Kriminellen nahmen ihm und seinen sechs Kollegen alles ab, was sie bei sich trugen: Kameras, Laptops, Handys, Bargeld. Selbst seinen Jeep musste der Lokalreporter zurücklassen. Nach 15 Minuten war der Spuk vorbei. Die Beraubten konnten mit ihrem zweiten Auto weiterfahren.

Amnesty-Journal März / April 2018

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„Dann sollen sie uns eben alle ermorden“

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Javier Valdez wusste genau, dass sie ihn im Visier hatten. Immer wieder hatte der preisgekrönte Journalist in den vergangenen drei Monaten anonyme Drohungen erhalten. Trotzdem gab er nicht auf. »Dann sollen sie uns eben alle ermorden«, schrieb der 50-Jährige im März, als seine Kollegin Miroslawa Breach starb. Vergangenen Montag erschossen ihn nun Unbekannte in der nordmexikanischen Stadt Culiacán. Zwölf Kugeln feuerten sie auf ihn, als er gerade die Redaktionsräume seiner Zeitung, der »Riodoce«, verlassen hatte.

Seit vielen Jahren beschäftigte sich Valdez mit den Geschäften der organisierten Kriminalität. Er ist mit den Verbrechern groß geworden, denn in seiner Heimat, dem Bundesstaat Sinaloa, regiert seit langem das gleichnamige Kartell des in den USA inhaftierten Joaquín »El Chapo« Guzmán. 2015 veröffentlichte er »Narcoperiodismo«, ein Buch über journalistisches Arbeiten in Zeiten des Mafiaterrors, 2003 gründete er die »Riodoce«, die sich wie keine andere Zeitung mit den Drogengeschäften des Sinaloa-Kartells und seiner Rivalen beschäftigt.

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Ya basta

ungassDie kühnste Idee kam von Hector Astudillo Flores. Man solle den Anbau von Schlafmohn und Marihuana legalisieren, forderte der Gouverneur des südmexikanischen Bundesstaats Guerrero – einer Region, deren Opiumproduktion die Hälfte des US-amerikanischen Heroinkonsums deckt. »Wir müssen außergewöhnlichen Problemen mit außergewöhnlichen Maßnahmen begegnen«, sagte er im März. Den Vorschlag sollten die Vertreter seines Landes zur UN-Drogenkonferenz UNGASS in New York mitnehmen.

Astudillo will die Legalisierung auf Pflanzen beschränken, die zu medizinischen Zwecken angebaut werden. Dennoch ist sein Vorhaben einer verbreiteten Erkenntnis geschuldet: Wo Hanf, Schlafmohn oder Kokasträucher illegal kultiviert werden, gehören Erpressung, Mord und Totschlag zum Alltag. »90 Prozent der gewalttätigen Vorfälle in Guerrero geschehen im Zusammenhang mit Drogen«, ist der Politiker der ehemaligen Staatspartei PRI überzeugt.

Jungle World, 21. April 2016

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Vertuschung und Folter

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Protest im Lehrerseminar Ayotzinapa. Foto: Kristin Gebhardt

Unterschlagene Beweise, behinderte Ermittlungen und Folter – im Fall der 43 in Mexiko verschwundenen Studenten hat eine internationale Expertengruppe (GIEI) schwere Vorwürfe gegen die Strafverfolger erhoben. Das von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingesetzte Gremium stellte am Sonntag in Mexiko-Stadt seinen Abschlussbericht vor. Die Gruppe wirft Beamten vor, Zeugen gefoltert zu haben. Zudem fordert sie, dass die Rolle von Bundespolizisten und Soldaten bei dem Angriff vom 26. September 2014 untersucht wird.

Bei der gemeinsamen Attacke von Polizisten und Mitgliedern der kriminellen Bande „Guerreros Unidos“ in der Stadt Iguala wurden nicht nur 43 Lehramtsanwärter verschleppt, sondern auch sechs Menschen getötet. Bis heute ist unklar, was mit den jungen Männern passiert ist.

taz, 26. April 2014

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